Cover
Titel
Aus Ungarn nach Bayern. Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956–1973


Autor(en)
Kiss, Rita
Reihe
Studia Hungarica (56)
Erschienen
Regensburg 2022: Pustet
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Weidle, Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, Leipzig

Im Spätherbst 1956 erhoben sich im „Ungarischen Volksaufstand“ weite Teile der ungarischen Bevölkerung gegen die kommunistische Regierungspartei. Die Bewohner:innen forderten die Unabhängigkeit ihres Landes von der Sowjetunion, verlangten nach demokratischer Umgestaltung sowie freien Wahlen und hofften im „Tauwetter“ unter KPdSU-Parteichef Nikita Chruschtschow auf tiefgreifende Reformen. Wie jedoch schon 1953 in der DDR und im Juni 1956 in Polen wurde der Aufstand gewaltsam niedergeschlagen: Die Kämpfe zwischen dem 23. Oktober und dem 4. November 1956 kosteten über 2.600 Ungar:innen das Leben, über 20.000 Personen wurden verwundet, rund 200.000 Menschen flohen vor allem ins westliche Ausland.1 Ihre Emigration stellte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine der größten Fluchtbewegungen in Europa dar und führte in knapp drei Dutzend inner- wie außereuropäischen Ländern zu Solidaritätsbekundungen, Hilfeleistungen und langfristigen Integrationsangeboten. Solchen widmeten sich seither zahlreiche Publikationen: Zuvörderst aus Regional- bzw. Länderperspektive stellten sie unterschiedliche Facetten von Flucht und Aufnahme dar und bildeten individuelle und kollektive Erlebnisberichte ebenso ab wie behördliche Vorgänge, politisches Handeln oder das Engagement staatlicher wie nichtstaatlicher Organisationen und Initiativen.2

Dass auch Bayern – und damit die Bundesrepublik Deutschland – zu einer zentralen Anlaufstelle wurde, zeichnet Rita Kiss in ihrer im Jahr 2020 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereichten Dissertationsschrift eindrücklich nach. Ausgehend von der These, dass die Reaktion der bayerischen Bevölkerung auf die Geflüchteten im Vergleich mit anderen Migrant:innengruppen (etwa „deutsche Heimatvertriebene“, Geflüchtete aus der DDR oder später „Gastarbeiter“) „überaus positiv“ gewesen sei, geht die Autorin der Frage nach, „unter welchen Umständen die Integration der Ungarn in Bayern gelingen konnte beziehungsweise erschwert war“ (S. 12). Im Zentrum stehen damit komplexe Überlegungen, „wie die Ungarnflüchtlinge agierten, wie Staat und Politik sowie die bayerische Bevölkerung in den ausgehenden 1950er Jahren auf die Aufnahme der Ungarnflüchtlinge reagierten und welche staatlichen sowie nichtstaatlichen Maßnahmen die Eingliederung förderten beziehungsweise verzögerten“ (S. 12).

Die 282 Textseiten umfassende Studie strukturiert Rita Kiss in fünf Kapitel. Die Autorin verbindet in diesen chronologische mit querschnittartigen Zugängen und greift auf ein beeindruckendes Materialkorpus zurück: Sie hob nicht nur relevante Quellen in 16 staatlichen und kirchlichen Archiven, mit denen sie statistische Grundlagen sowie politisch-institutionelle Reaktionen auf die Ankunft der Geflüchteten rekonstruieren kann. Daneben werden mit Schwerpunkt auf Bayern 37 (!) internationale Zeitungen und Zeitschriften angeführt, über die gesamtgesellschaftlich-öffentliche Reaktionen aufgearbeitet werden. Schließlich fließen auch erlebnisgeschichtliche Erzählungen ein: Neben publizierten Lebensberichten auch zehn Gespräche mit Zeitzeug:innen, die von der Autorin zwischen 2010 und 2016 geführt wurden.

Ein 14-seitiger Forschungsstand führt im einleitenden Kapitel nach Ländern aufgeteilt Publikationen zum Aufstand und seiner Nachgeschichte an, wobei dieser von einer Bildung thematischer Cluster mit Blick auf die Zielsetzung der Arbeit profitiert hätte. Dasselbe gilt auch für die Ausführungen zum methodischen Vorgehen und zur Quellenlage, in denen die prosopografische Kollektivbiografie (Lawrence Stone), die Oral History, die historische Migrationsforschung, die Exilforschung oder der Umgang mit Statistiken und der Tagespresse als methodische Interessensfelder identifiziert und schlaglichtartig abgehandelt werden.

Im zweiten Kapitel widmet sich die Autorin dem „ungarischen Ausgangsmilieu“, wobei ihr Fokus auf „wanderungsfördernden Faktoren“ liegt (S. 39). Beginnend mit dem Zweiten Weltkrieg läuft dies über eine Schilderung von Vorgeschichte und Verlauf des Aufstandes sowie der anschließenden Vergeltungspolitik der frühen Kádár-Ära auf Ungarns Bevölkerungsverlust zu: Wie Kiss herausstellt, waren rund zwei Drittel der 200.000 Flüchtenden Männer, daneben mehr als die Hälfte junge Erwachsene unter 25 Jahren. Die große Mehrheit (mehr als 180.000) floh über Österreich in Drittstaaten, etwa 16.000 führte ihre Flucht über Jugoslawien. Insgesamt kehrten etwa 15.000 der Geflüchteten nach Ungarn zurück (S. 58–61).

Das dritte Kapitel stellt Bayern als wichtigstes bundesrepublikanisches Transitland in den Mittelpunkt. Dazu blickt die Autorin zunächst auf die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Ungarn zwischen 1945 und 1973, ehe sie sich mit den Folgen des Aufstands in Bayern auseinandersetzt: Ab 1956 kamen hier in drei von insgesamt fünf bundesrepublikanischen Durchgangslagern ein Gros der rund 90.000 Personen unter, die in weitere deutsche Bundesländer sowie westliche Staaten verteilt wurden. Wie unter Fokussierung auf das staatliche Handeln aufgezeigt wird, beteiligten sich an der enormen Unterstützung sowohl die Bundes- als auch die bayerische Regierung und daneben zahllose Verwaltungseinheiten, Kommunen und Privatpersonen. Zwar begründete die Bundesregierung ihren Einsatz zuallererst mit Verweis auf die „humanitäre Pflicht und christliche Nächstenliebe“ (S. 68). Daneben jedoch waren weitere Ursachen ausschlaggebend: Seitens der deutschen Wirtschaft etwa habe angesichts des „Wirtschaftswunders“ großes „Interesse an gut ausgebildeten Flüchtlingen [bestanden], die sofort in den Arbeitsprozess eingegliedert werden konnten“ (S. 70).

Kapitel vier und fünf bilden schließlich den inhaltlichen Kern der Arbeit: Unter der Überschrift „Aufnahmeland Bayern“ geht es zunächst auf über 100 Seiten um verschiedene Facetten der Aufnahme von insgesamt 1.541 Personen. Dass die Autorin dazu abermals nach dem Zweiten Weltkrieg ansetzt und die weitgehend erschöpften Unterbringungskapazitäten Bayerns schildert, führt zwar zu Redundanzen. Inhaltlich jedoch können die Erfahrungen der bzw. mit den „deutschen Heimatvertriebenen“ nach 1945 nicht genug hervorgehoben werden. Deutlich zeigt das etwa die Geschichte der zentralen Durchgangs- und Wohnlager Schalding bei Passau und Piding bei Bad Reichenhall: Diese waren schon seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wichtige Anlaufstellen für heterogene Gruppen an Geflüchteten. Mehrere Seiten widmen sich anschließend der „Ungarnhilfe“, die in jedem bayerischen Dorf Thema gewesen sei. Die Spendenbereitschaft der Bevölkerung sei enorm gewesen und habe bei den Wohlfahrtsorganisationen eine „Lawine der Spenden“ (S. 125) ausgelöst: „Jeder“, so leitet die Autorin aus der Überlieferung ab, „wollte helfen“ (S. 122). Aufschlussreich sind hier insbesondere die Feststellung, dass sich durch die Ungarnhilfe ein Buchmarkt für „Deutsch als Fremdsprache“ etabliert habe (S. 138), sowie die detaillierte Schilderung der verschiedenen Wohn-, Arbeits- und Bildungsorte, an denen Geflüchtete in Bayern Aufnahme fanden.

Im Zusammenhang mit den überquellenden Spendenlagern widmet sich Kiss auch den Erfahrungen eines Münchner Studenten, der im „Kampf gegen den Kommunismus“ als Flüchtlingshelfer an die österreichisch-ungarische Grenze gefahren war und seine Erlebnisse auf Postkarten und Fotografien festhielt (S. 129–133). Seine überaus spannenden Äußerungen konnte Kiss 2006 in einem Zeitzeugeninterview aufgreifen. Versteckt in den Fußnoten hätte eine Gegenüberstellung dieser Quellen im Haupttext noch mehr Deutungspotential geboten. Dasselbe gilt für die abgedruckten, aber nicht eingeordneten Fotografien und muss letztlich für viele der herangezogenen eher subjektiven Quellen konstatiert werden: Ihr Potential wird – zumal vor dem Hintergrund der avisierten Erforschung „individueller Entscheidungsmöglichkeiten und Erfahrungen“ (S. 27) – leider nicht immer ausgeschöpft.

Im fünften Kapitel legt Kiss schließlich den Fokus auf die „Gegenseitige Wahrnehmung“ zwischen der Aufnahmegesellschaft und den Ankommenden: Sie fragt nach „vorherrschenden Ungarnbildern“ in der bayerischen Gesellschaft und wie diese durch die Medien beeinflusst wurden. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei Ungarn im Kino und durch internationale Sportveranstaltungen „als Sehnsuchtsort präsentiert [worden] und war deshalb überaus positiv besetzt“ (S. 210). Einige Seiten widmen sich anschließend einer explizit ungarischen Perspektive, wobei hier eine stärkere Schwerpunktsetzung wünschenswert gewesen wäre. Hervorzuheben ist das Unterkapitel „Missverständnisse, Schwierigkeiten und Konflikte“, bietet es doch – im Gegensatz zu den ansonsten tendenziell eher euphemistisch beschriebenen Folgen des Ungarnaufstands in Bayern – eine dezidiert kritische Lesart. Dass unter dieser Überschrift neben Ungar:innen, die sich nicht an lokale Aufenthaltsregelungen hielten oder mit ihren Arbeitsstellen unzufrieden waren, allerdings auch exilfaschistische und rechtsradikale ungarische Vereinigungen in der Bundesrepublik behandelt werden, mutet etwas seltsam an.

Am Ende der Lektüre steht eine gemischte Bilanz: Insgesamt legt Rita Kiss mit „Aus Ungarn nach Bayern. Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956–1973“ ein detailliertes, bislang ausstehendes Grundlagen- und Nachschlagewerk für die bayerische wie bundesrepublikanische Perspektive auf den Ungarnaufstand von 1956 und dessen Nachgeschichte vor. Von einer zumindest partiellen Umstrukturierung hätte die Publikation jedoch, insbesondere zur Vermeidung zahlreicher Redundanzen, ebenso profitiert wie durch das stärkere Denken in Thesen.

Anmerkungen:
1 Ralf Thomas Göllner, Die ungarische Revolution von 1956, in: Manfred Agethen / Günter Buchstab (Hrsg.), Oppositions- und Freiheitsbewegungen im früheren Ostblock, Freiburg im Breisgau 2003, S. 89–129.
2 Exemplarisch für Österreich: Alexandra Haas, Ungarn in Tirol. Flüchtlingsschicksale 1945–1956, Innsbruck 2008, oder Peter Haslinger, Zur Frage der ungarischen Flüchtlinge in Österreich 1956/1957, in: Gerhard Seewann (Hrsg.), Migrationen und ihre Auswirkungen. Das Beispiel Ungarn 1918–1995 (Buchreihe der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa 36), München 1997, S. 147–162.

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